Donnerstag, 7. November 2013

Teil 2 - Die Geschichte der Alten vom zweiten Stock

 
Es geht weiter...
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Die Dame selbst war eine eher unscheinbare Frau. Sie war schmal gebaut und trug nur schlichte Kleidung, wie es alte Damen meist zu tun pflegen. Ihr Gesicht war ebenso schmal und wirkte grau, genau wie ihre dünnen Haare, die sie meist zu einem Knoten hochband. Ihr Alter ließ sich schwer schätzen, aber man sah ihr an, dass sie Rentnerin war und die besten Zeiten bereits erlebt hatte.
Insgesamt wirkte sie also wie jede Frau ihres Alters und niemand wusste Genaueres über sie, aber sie interessierte auch niemanden.
Morgens in der Frühe stand sie stets auf und ging, ohne sich umzuziehen oder ihre Haare zu bändigen, in die Küche. An der Wand summten Fliegen ihren Morgengesang und ein paar Ameisen zogen ihre Bahnen über den kalten Boden. Ihre Wohnung schien die Tiere mehr anzuziehen als die anderen Wohnungen des Hauses. Aber es machte ihr nichts aus.
Sie öffnete jeden Morgen das Küchenfenster und ließ die kühle abgasverseuchte Luft in den Raum. Dann blickte sie hinunter in den leeren Hof und nach wenigen Minuten erschien eine Krähe am grauen Himmel, die ihre Kreise zog und sich schließlich dem Fenster näherte. Es dauerte meist nicht lange, bis sie sich auf der Fensterbank niederließ, ihr schwarzes Gefieder schüttelte und krächzte. Dann nahm die Dame eins der Einmachgläser aus dem Schrank und legte der Krähe Haferflocken neben die rauen Krallen, welche sie sogleich dankbar aufpickte. Manchmal kamen noch ein paar Krähen mehr hinzu und labten sich an diesem Frühstück. Wenn sie alle wieder weggeflogen waren, schloss die Dame mit einiger Kraftanstrengung das Fenster und ging ins Badezimmer.
Sie war eine eher schwache Frau, was auf ihren schmalen Körper zurückging, der seine größte Kraft bereits verloren hatte. Dafür war sie gesund wie fast niemand in ihrem Alter. Sie hatte starke Knochen, eine gute, wenig fleckige Haut und brauchte weder Brille noch Hörgerät. Ihre Sinne waren noch scharf wie damals.
Nur ab und zu, in regelmäßigen Abständen, überfielen sie plötzliche Schmerzen, so stark, dass sie sich kaum sicher durch ihre Wohnung bewegen konnte. Dann wusste sie, dass es wieder an der Zeit war.


LG,
RB ;)

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